Der Kurier hat schon 2008 das Gutachterunwesen in Österreich thematisiert. Damals kam der Gutachter Max Friedrich aus Wien zu Fall, in weiterer Folge auch noch der umstrittene Egon Bachler aus Salzburg.
Nun geht es beim Fall Kampusch ins Eingemachte: Videos, Tonträger und Dokumente stellen die Einzeltätertheorie in Frage und bringen die Justiz unter Druck.
Die geheimen Ermittlungsunterlagen zum weltberühmten Entführungsfall Natascha Kampusch - wo sind sie? Wer hat sie? Was können sie belegen? Brennende Fragen in einer heftig umstrittenen Causa.
Der KURIER hat das verschwunden geglaubte, begehrte Polizeimaterial bekommen. Videos, Tonbandaufzeichnungen, Fotos. Dokumente, die von der Staatsanwaltschaft offenbar nicht gewürdigt wurden. Diese Unterlagen stellen die im Jänner 2010 offiziell ausgegebene "Einzeltätertheorie Wolfgang Priklopil" infrage. Und sie lassen auch den Selbstmord des Chefermittlers Franz Kröll in einem seltsamen Licht erscheinen.
Ein Justizskandal, wie die Oppositionsparteien vermuten. Ein Fall, der nach den vorliegenden Fakten in jedem Fall in einer neuerlichen, einer restlosen Aufklärung münden sollte.
Widersprüchlich
Die heute 23-jährige Natascha Kampusch fordert vom Staat eine Million Euro. Wegen Ermittlungspannen, die ihrer Meinung nach mitverantwortlich gewesen waren für ihre 3096 Tage in Gefangenschaft.
Der Fall steckt allerdings voller Widersprüche: Denn einerseits wirft Kampusch den Ermittlern vor, nach ihrer Entführung am 2. März 1998 die Hinweise einer Tatzeugin nicht mit dem nötigen Nachdruck verfolgt zu haben. Andererseits spricht Kampusch ebendieser Tatzeugin die Zuverlässigkeit ab, was die Zahl der Täter betrifft.
In dem Video vom 31. August 2006, auf dem die Tat nachgestellt wird und das dem KURIER vorliegt, spricht die Zeugin nämlich von zwei Tätern. Erstellt wurde dieses Polizei-Video eine Woche nach Kampuschs Flucht. Die Zeugin macht in dem Video unmissverständlich klar, zwei Männer in einem weißen Kastenwagen gesehen zu haben. Der Beifahrer - die Zeugin identifizierte ihn als Wolfgang Priklopil - habe Natascha Kampusch 1998 in den Wagen gezerrt, danach seien die beiden Männer mit dem Kind davongefahren.
Natascha Kampusch freilich beharrt seit ihrer Flucht auf der Einzeltäter-Theorie.
Unermüdlich
Die Zeugin wurde von den Kriminalisten allerdings als höchst glaubwürdig eingestuft, wie aus den Akten hervorgeht. Kampusch jedoch bleibt dabei: Sie wisse nichts von einem zweiten Täter. Eine Version, die vielleicht nicht an Kampuschs Wahrnehmung, "sicher jedoch an der Wahrheit vorbeischrammt", wie Johann Rzeszut, ehemaliger Präsident des Obersten Gerichtshofes, nicht müde wird zu betonen. Rzeszut war 2008 in eine unabhängige Untersuchungskommission berufen worden, um mögliche Ermittlungspannen aufzudecken. Richter Rzeszut sammelte, gemeinsam mit Franz Kröll, dem Chefermittler der Sonderkommission, reihenweise Belege für Ungereimtheiten. Doch die Justiz wollte laut Rzeszut den Fall schleunigst zu den Akten legen.
"Ich war auch 16 Jahre lang als Staatsanwaltschaft tätig und kann die Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft nicht nachvollziehen", sagt der ehemals höchste Richter Österreichs. "Von der Justiz wurde lediglich Natascha Kampusch einvernommen. Die Zeugin der Entführung und andere relevanten Personen bis heute nicht. Uns wurden Protokolle vorenthalten. Der Fall stinkt zum Himmel."
Zerbrochen
Eine Schlüsselfigur in dem Drama ist Oberst Franz Kröll. Der 59-Jährige nahm sich im Juni 2010 das Leben. Sein 56-jähriger Bruder Karl will Aufklärung: "Mein Bruder wollte die Einzeltätertheorie nie zur Kenntnis nehmen, er hatte Beweise für das Gegenteil. Man wollte ihn weghaben."
Fakt ist: Chefermittler Franz Kröll ist an der Causa Kampusch zerbrochen. Er war es, der die Befragungen wichtiger Zeugen führte und dokumentierte. Die Justiz indes zeigte an Krölls Erhebungen wenig Interesse.
Im Gegenteil. In einer eMail vom 16. Dezember 2009 schreibt Kröll an einen Vertrauten, "...dass man mir nahelegte (unmissverständlich), den Akt zu schließen.". Was er auch tat. "Woran er zerbrach. Oberst Kröll war ein integrer, intelligenter Beamter. Unbestechlich und ausgezeichnet. Er wurde in den Tod getrieben. Ich werde keine Ruhe geben. Das bin ich ihm schuldig", sagt Johann Rzeszut, der ebenfalls in Besitz zahlreicher Aufzeichnungen ist. Mit den Unterlagen, die dem KURIER vorliegen (darunter Beweismaterial des verstorbenen Kröll), ergibt sich ein neues Bild: "Es muss zumindest einen zweiten Täter gegeben haben", sagt Rzeszut. So etwa verstrickte sich Ernst H., der enge Vertraute Priklopils, bei den Einvernahmen in erhebliche Widersprüche. Zeugen gaben an, Ernst H. mit Priklopil und einem jungen Mädchen gesehen zu haben.
Warum die Justiz die Beweislast der Kommission beiseite schob, stattdessen ausschließlich der Kampusch-Version Glauben schenkte und den Fall als erledigt erklärte? Oberstaatsanwalt Werner Pleischl zeigt sich heute interessiert an Unterlagen, die den Fall erhellen könnten, erklärt jedoch: "Rzeszut hat Theorien entwickelt, die sich vornehmlich auf seine individuellen Vermutungen stützen, aber keinerlei 'aussagekräftiges Material' zur Verfügung gestellt."
Johann Rzeszut kontert: "Ich weiß schon - für die Staatsanwaltschaft war alles aus der Luft gegriffen. Aber in diese Luft habe ich gerne hineingegriffen."
Lesen Sie morgen im KURIER: Details aus dem Video und den Unterlagen.
KURIER | Rainer Fleckl, Erich Vogl | INHR
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