Jahrelang saß Harry Wörz im Gefängnis, weil er angeblich seine Ex-Frau beinahe erwürgt hatte - doch plötzlich bekam er einen Freispruch erster Güte. Ein Berliner Filmemacher hat den Installateur über all die Zeit begleitet. Seine TV-Dokumentation zeigt, wie Polizei und Justiz ein Leben zerstörten.
Hamburg - Am 29. April 1997 klingelt in einer kleinen Mansardenwohnung in Gräfenhausen nahe Pforzheim um 5 Uhr der Wecker. Harry Wörz steht auf, putzt sich die Zähne und wäscht sich die Haare. Als er aus dem Bad kommt, blinkt der Anrufbeantworter. Es ist die Polizei. Seiner von ihm getrennt lebenden Frau Andrea sei etwas zugestoßen, er möge schnell zurückrufen.
Wörz ahnt nicht, dass sein Elternhaus, in das er nach der Trennung zurückgekehrt ist, von Streifenwagen und Suchhunden umstellt ist. Dass Dutzende von Beamten darauf warten, ihn mitzunehmen.
Wörz ruft zurück. Danach informiert er seinen Kollegen, mit dem er zur Arbeit fahren wollte, sagt ihm, er werde sich verspäten. Dann verlässt Wörz das Haus. Im Hof überrumpeln ihn Polizisten, zerren ihn auf den Rücksitz eines Streifenwagens und nehmen den damals 31-Jährigen mit aufs Revier.
Wörz wird für Jahre nicht in seine Wohnung zurückkehren. Nichts im Leben des Installateurs wird je wieder so werden, wie es bis eben war.
Um 2.18 Uhr in jener Nacht ist die junge Polizistin Andrea Z. nach einem lauten Streit mit einem Schal stranguliert worden. Sie erleidet irreparable Hirnschäden, sitzt seither im Rollstuhl, kann sich nicht mehr artikulieren, den Namen des Täters nicht nennen. Ihr Vater, auch Polizist, findet sie bewusstlos. Er alarmiert seine Kollegen und benennt schon zwei Tatverdächtige: Thomas H., den Geliebten der jungen Frau, ebenfalls Polizist, und Harry Wörz, ihren Ex-Mann. Bereits nach wenigen Stunden gilt Wörz als einziger Tatverdächtiger.
Er bleibt es zwölf Jahre lang.
"Man hat einen Menschen seines normalen Lebens beraubt"
Im Oktober 1997 wird Wörz wegen versuchten Mordes angeklagt, im Januar 1998 vom Landgericht Karlsruhe zu elf Jahren Haft verurteilt, wegen versuchten Totschlags.
Gunther Scholz, ein Filmemacher aus Berlin, begleitet Wörz in diesen Jahren, spricht mit ihm, baut ihn auf. Die beiden Männer freunden sich an. Niemanden lässt Wörz so nah an sich ran wie Scholz. Entstanden ist die TV-Dokumentation "Leben unter Verdacht - Der Fall Harry Wörz" (Dienstag, 29. Juni, 22.45 Uhr, ARD).
"Man hat einen Menschen seines normalen Lebens beraubt", sagt Scholz. Wörz sei im Laufe der Jahre verschlossener geworden, sein Wunsch nach Anonymität größer. Obwohl er wisse, dass er die Öffentlichkeit gebraucht hat, um auf diesen Justizirrtum aufmerksam zu machen.
Scholz besucht Wörz 2001 in der JVA Heimsheim. "Ich war das erste Mal in einer Zelle. Als ich da drinstand, sah ich, es gibt gar keinen Türgriff von innen", sagt Wörz leichtgläubig in dem Film, macht eine Pause und konstatiert dann nachdenklich. "Ich war eingesperrt." Er habe gedacht, es werde sich alles aufklären. Er habe gedacht, Andrea wache wieder auf und könne den wahren Täter benennen. "Aber nichts von dem, was ich gedacht habe, ist eingetreten."
"Ich war von Anfang an der Verdächtige gewesen", sagt Wörz im Film. Die Polizei habe mit seiner Festnahme den Fall abgeschlossen. Die Polizisten, die am 16. Januar 1998 zur Urteilsverkündung ins Landgericht Karlsruhe gekommen sind, klatschen sich ab, als Wörz in Handschellen abgeführt wird. Vor Freude hupend fahren sie von Karlsruhe zurück nach Pforzheim.
Wie geht Harry Wörz damit um? Was belastet ihn?
Scholz' Film zeigt akribisch, welch eklatante Fehler die Ermittler machen und wie leichtfertig mit Wörz' angeblicher Täterschaft umgegangen wird.
Im Oktober 1999 klagt Andreas Vater auf Schadenersatz; Wolfgang Z. will 300.000 Mark Schmerzensgeld von dem Installateur. Das Landgericht Karlsruhe schmettert die Klage ab mit der Begründung ab, Wörz' Täterschaft könne nicht als bewiesen gelten - folglich könne er nicht auf Schmerzensgeld verklagt werden. Das Urteil ist die Grundlage für eine Wiederaufnahme.
Das Landgericht Karlsruhe lehnt ab - das Oberlandesgericht Karlsruhe (OLG) dagegen lässt die Wiederaufnahme zu. Wörz wird sofort aus der Haft entlassen, am 30. November 2001, nach vier Jahren und sieben Monaten.
Scholz besucht Wörz in seinem Heimatort Gräfenhausen, trifft ihn während der zermürbenden Wartezeit auf zwei neue Prozesse. Ihm vertraut Wörz an: "Ich weiß nicht, wie lange die das noch machen wollen. Denen ist ja Geld egal. Die machen mein Leben kaputt."
Scholz zeichnet in seinem Dokumentarfilm den steinigen Weg des Verurteilten nach und fragt: Was hat man mit diesem Mann gemacht? Was passiert mit einem Menschen, der in solch eine Situation gerät? Wie geht er damit um?
Das Landgericht Mannheim spricht Wörz schließlich am 6. Oktober 2005 frei, Staatsanwalt und Nebenklage legen Revision ein. Der Bundesgerichtshof (BGH) hebt den Freispruch auf, es kommt erneut zu einem Wiederaufnahmeverfahren vor dem Landgericht Mannheim.
Das Landgericht nennt einen neuen Tatverdächtigen
Der Prozess endet im Oktober 2009 mit einer Sensation: Die Kammer spricht Wörz nicht nur frei. Der Vorsitzende Richter Glenz prangert die schlampige und einseitige Ermittlungsarbeit der Pforzheimer Polizei an und spricht von einem schwerwiegenden Tatverdacht gegen Andreas Geliebten, den Polizisten Thomas H.
Vor Gericht nehmen ihn die Richter als Zeugen ins Kreuzverhör. Seine Aussagen werfen Ungereimtheiten und neue Fragen< auf. So kann Thomas H. nicht aufklären, warum er das Wochenende vor der Tat mit Andrea Z. verbrachte, am Tatabend aber zu seiner Frau zurückkehrte.
Harry Wörz verlässt den Gerichtssaal als freier Mann und ist doch alles andere als das. Scholz zeichnet die Zerstörung eines Menschen durch schlechte Ermittlungsarbeit und leichtfertige Urteile nach. Nach Durchsicht der umfangreichen Akten habe er sich dazu bekennen können, dass er Wörz für unschuldig hält, sagt der Filmemacher. "Mich ärgert nach zehn Jahren umso mehr, dass ich nicht weiß, wer der wahre Täter ist."
In seinem Film spart Scholz nicht mit Vermutungen. War es der Geliebte? Oder vielleicht der Vater? "In dieser Geschichte liegt noch vieles im Dunkeln", sagt Scholz. Das habe jeder einzelne Prozesstag gezeigt.
Der erstklassige Freispruch habe bei Wörz "was freigesetzt" - "aber die psychologische Gesamtentwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen". Auch weil der Fall noch nicht abgeschlossen ist. Die Staatsanwaltschaft Mannheim und der Anwalt der Nebenklage haben inzwischen erneut Revision gegen den Freispruch eingelegt - obwohl die Staatsanwaltschaft Karlsruhe zeitgleich eine Sonderkommission gegründet hat, die den Fall noch einmal untersuchen soll. In ihrem Visier: der einstige Geliebte von Andrea Z. Im Januar wurde Thomas H. vom Dienst suspendiert.
Für Harry Wörz ist all das kein Trost. Er ist finanziell ruiniert. "Man hat mir alles gestohlen, alles. Nicht nur meinen Sohn, Eltern, Verwandte, Bekannte", sagt der 44-Jährige im Film. "Das braucht lange, bis ich über das hinwegkommen tue. Wenn ich überhaupt darüber hinwegkommen tue."
Seit wenigen Wochen befindet sich Harry Wörz in Kur, von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Bekannten zufolge geht es ihm sehr schlecht.
www.spiegel.de | Julia Jüttner
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