Kuck mal, meine Vagina

Cohn-BenditAuch die Linke hat ihre Missbrauchsgeschichte: Zu den Projekten der 68er gehörte die sexuelle Befreiung der Kinder, der Bruch aller Schamgrenzen wurde bei einem Teil der Bewegung zum Programm. So entstand ein Klima, in dem selbst Pädophilie als fortschrittlich galt.

Im Frühjahr 1970 fand die Berliner CDU-Abgeordnete Ursula Besser vor ihrer Wohnungstür eine fremde Aktentasche. Es passierte in diesen Tagen öfter, dass Leute etwas bei ihr ablegten oder in den Briefschlitz steckten. Manchmal musste die Polizei anrücken, um eine verdächtige Sendung in Augenschein zu nehmen, wofür sich Besser dann bei den Nachbarn entschuldigte.

Die Studenten hatten die Revolution ausgerufen, und die Offizierswitwe Besser gehörte zu den Kräften in der Stadt, die sich entschieden gegen die Zeitenwende stellten. Die CDU hatte die promovierte Philologin in den Bildungsausschuss geschickt, als sie drei Jahre zuvor neu in das Abgeordnetenhaus gekommen war; ihre direkten, angriffslustigen Auftritte hatten sie schnell bekannt gemacht.

Die Tasche enthielt einen Stoß Papier, mit Schreibmaschine getippte Tagesprotokolle über die pädagogische Arbeit in einem Schülerladen am Kreuzberger Oranienplatz, in dem bis zu 15 Kinder im Alter zwischen 8 und 14 Jahren am Nachmittag betreut wurden. Das erste Protokoll trug das Datum vom 13. August 1969, das letzte stammte vom 14. Januar 1970.

Schon bei flüchtiger Durchsicht des Materials zeigte sich, dass die Erziehungsarbeit in dem Schülerladen "Rote Freiheit" unorthodox ausfiel. Die Schüler sollten zu "sozialistischen Persönlichkeiten" geformt werden, der Erziehungsauftrag ging weit über das betreute Spielen hinaus. Auf dem Programm stand neben "Agitprop" über die Situation in Vietnam auch "Straßenkampf", bei dem die Kinder in "Studenten" und "Bullen" eingeteilt wurden.

Ganz besonderen Wert legten die Erzieher ausweislich der Notizen auf die Sexualerziehung. Beinahe täglich gab es Pfänderspiele, in denen die Schüler sich auszogen, dazu gemeinsame Lektüre von Pornoheften und pantomimische Darstellungen des Geschlechtsverkehrs.

Von einer "Sexübung" war am 11. Dezember die Rede, von einer "Fickstunde" am 14. Januar. Am 26. November lautete der Eintrag: "Überhaupt provozierten wir durch unser Daliegen immer wieder offen oder versteckt sexuelle Anspielungen, die dann in Pantomimen zum Ausdruck kamen, die Kurt mit Rita auf dem abgesägten Tisch (als Bühne) vor uns aufführten."

Das Material machte ein breiteres Publikum erstmals mit einem Nebenprodukt der Studentenbewegung bekannt: der sexuellen Befreiung der Kinder. Ursula Besser gab die Protokolle an einen Redakteur des Berliner "Abend" weiter, der sie auszugsweise veröffentlichte. Am 7. April 1970 beschäftigte sich auch das Berliner Abgeordnetenhaus mit dem Schülerladen "Rote Freiheit": Hinter der Einrichtung stand das Psychologische Institut der Freien Universität, wie sich zeigte; der Fachbereich hatte das Projekt ins Leben gerufen und stellte die Erzieher. Besser vermutet, dass es ein besorgter Mitarbeiter war, der bei ihr die Protokolle ablegte.

Einige Tage später besuchte die Abgeordnete das Psychologische Institut in Berlin-Dahlem, "zu einer Ortserkundung", wie sie sagt. Im Keller stieß Besser auf zwei Räume, die durch eine große, nur von einer Seite durchsichtige Glasscheibe getrennt waren. In dem einen Raum lag eine Matratze, an der Wand hing ein Waschbecken, daneben eine Reihe bunter Waschläppchen. Auf Nachfrage erklärte ihr ein Institutsmitarbeiter, der Keller habe als "Beobachtungsstation" gedient, um das kindliche Sexualverhalten zu erforschen.

Es ist in Vergessenheit geraten, aber gerade die 68er und ihre Nachfolger waren von einer seltsamen Obsession ergriffen, was die kindliche Sexualität angeht. Das Kapitel kommt in den Feierstunden der Bewegung nie vor. Die Veteranen scheinen in diesem Punkt von einem akuten Gedächtnisverlust befallen, dabei wäre eine Aufarbeitung auch dieser Umwälzung der Verhältnisse durchaus lohnend.

Zur Wahrheit in der Debatte über den sexuellen Missbrauch gehört, dass die Verwirrung, wo die Grenzen im Umgang mit Kindern liegen, sich nicht auf die katholische Kirche beschränkte. Tatsächlich beginnt gerade in den sogenannten fortschrittlichen Milieus eine Sexualisierung der Kindheit, ein schrittweises Absenken der Tabuschranken, an dessen Ende sogar der Geschlechtsverkehr mit Kindern denkbar ist.

Schon die Vorfälle an der hessischen Odenwaldschule haben gezeigt, dass es eine Verbindung zwischen Reformanspruch und Enthemmung gab. Auch der Fall des ehemaligen "Konkret"-Verlegers Klaus Rainer Röhl ist ohne den Zeitbezug nicht wirklich zu verstehen. Die "Konkret"-Texte, in denen offen der Sex mit Minderjährigen propagiert wurde, sind mindestens so verstörend wie die von Röhl bestrittenen Anschuldigungen der Töchter Anja und Bettina, von ihrem Vater belästigt worden zu sein.

Es stellt sich die Frage, ob sich der Verleger durch Auflage und Anerkennung seines Magazins ermutigt sah. Wer von seiner Umwelt keine Zurechtweisung, sondern Zustimmung erfährt, hat ein geringeres Unrechtsbewusstsein und damit weniger Grund zur Affektkontrolle.

Auch die Linke hat ihre Missbrauchsgeschichte, und sie ist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Fragt man Wortführer von einst, erhält man zögerliche oder ausweichende Antworten. "Im Kern der 68er-Bewegung hat es in der Tat an einer Respektierung der nötigen Grenzen zwischen Kindern und Erwachsenen gemangelt. Inwiefern diese Gefährdung zu Missbrauchsfällen geführt hat, ist offen", schreibt der Politologe und Bewegungschronist Wolfgang Kraushaar im Rückblick.

Mangelnder Respekt vor den Grenzen ist eine schöne Formulierung. Man kann auch sagen: Die Grenzen wurden ziemlich gewaltsam eingerissen.

Die Befreiung der Sexualität steht ganz oben auf dem Themenplan der jungen Revolutionäre, die sich ab 1967 daran machen, die Gesellschaft umzukrempeln. Die Kontrolle der Triebe wird als Herrschaftsinstrument verstanden, mit der die bürgerliche Gesellschaft ihre Macht festigt. Alles, was von den Neuerern als falsch und schädlich empfunden wird, hat hier seinen Ursprung: die Aggression des Menschen, seine Gier und sein Besitzstreben, seine Autoritätshörigkeit. Nur wer sich der sexuellen Repression entzieht, kann ein wahrhaft freier Mensch werden.

Es liegt nahe, bei der Befreiung früh anzusetzen. Wenn die Schamgrenzen erst einmal etabliert sind, ist alles, was dann folgt, Herumdoktern am Symptom. Viel besser ist, Scham erst gar nicht entstehen zu lassen. Kaum ein linkes Theoriebuch, das in dieser Zeit nicht die Sexualität in den Blick nimmt.

So heißt es in der 1971 bei Rowohlt erscheinenden Schrift zur "Revolution der Erziehung", die schnell hohe Auflagen erreicht: "Die Entsexualisierung des Zusammenlebens in der Familie, vom Verbot sexueller Betätigungen der Kinder bis zum Inzesttabu, dient der Vorbereitung der totalen Anpassung - als Vorbereitung auf die Lustfeindlichkeit der Schule, auf die freiwillige Unterwerfung unter den entfremdeten Arbeitsprozess."

Wie das geforderte Gegenprogramm in der Praxis aussah, ließ sich im "Kursbuch" Nummer 17 vom Juni 1969 nachlesen. In der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Kulturzeitschrift fand sich ein Bericht der Mitglieder der Kommune 2 in Berlin über "Kindererziehung in der Kommune". Im Sommer 1967 waren drei Frauen und vier Männer in eine Altbauwohnung in der Giesebrechtstraße gezogen, zusammen mit zwei Kleinkindern, der damals dreijährigen Grischa und dem vierjährigen Nessim. Für die Kommunarden war das Wohnexperiment der Versuch, alle bürgerlichen Zwänge zu überwinden, wozu getrennte Kassen und geschlossene Toilettentüren ebenso gehörten wie Treue in der Paarbeziehung und eben die Ausbildung von Schamgefühlen. Die beiden Kinder wurden gemeinschaftlich erzogen, was oft hieß, dass sich niemand wirklich um sie kümmerte. Weil sich die Erwachsenen nicht nur "Duldung, sondern Bejahung der kindlichen Sexualität" zum Ziel gesetzt hatten, beließen sie es hier nicht beim Zusehen.

Auch die Kommunebewohner neigten zum zwanghaften Protokollschreiben, deshalb sind die Vorgänge dort verlässlich überliefert. Am 4. April 1968 beschreibt Eberhard Schultz, wie er mit der kleinen Grischa im Bett liegt und sie ihn zu streicheln beginnt, erst Gesicht, Bauch und auch Po, schließlich den Penis des Mannes, bis er "ganz erregt" ist und sein "Pimmel steif wird". Das Mädchen zieht sich die Strumpfhose herunter und fordert Schultz auf, "ma reinstecken", worauf er antwortet, sein Penis sei dafür "wohl zu groß". Dann streichelt er das Kind an der Vagina.

Dem "Kursbuch" 17 lag ein Bilderbogen bei, der die Größe eines "Bravo"-Posters hatte und unter der Überschrift "Liebesspiele im Kinderzimmer" Nessim und Grischa in einer Fotofolge nackt zeigte, darunter in Großaufnahmen, die man heute in einem Pädophilenblatt vermuten würde, aber nicht in einem Leitmedium der linken Intelligenz. "Grischa geht zum Spiegel", heißt es in der Bildlegende, "beschaut ihren Körper, beugt sich mehrmals vor, wobei ihre Hände ihren Popo umspannen, sagt: ,Kuck mal, meine Vagina.'"

Der ehemalige Kommunarde Ulrich Enzensberger hat später erzählt, dass zumindest Nessim "mit Grausen" an seine Zeit im Kollektiv zurückdenke. Nessim ist jetzt Politologe in Bremen, Grischa lebt in Berlin und arbeitet bei einem Verlag. Seit die zwei selbst über ihr Privatleben entscheiden können, haben sie sich der Öffentlichkeit konsequent entzogen. Über seine Kindheit "und somit intime Themen" rede er nur "mit vertrauten Menschen", antwortet der Politologe auf Anfrage freundlich; ähnlich äußert sich die heute 46-jährige Verlagsangestellte.

Man könnte versucht sein, die "Liebesspiele" in der Wohngemeinschaft als Ausnahme abzutun, als radikalen Überschuss eines revolutionären Projekts, wenn sich nicht viele linke Eltern ausgerechnet die Erziehungsexperimente in der Giesebrechtstraße zum Vorbild genommen hätten. Die Kommune 2 galt diesen Zeitgenossen, was die antiautoritäre Erziehung angeht, als Pilotprojekt, dem in rascher Folge private Kindergärten folgten, in denen die Eltern ihren Nachwuchs nach den neuen Ideen aufzogen, erst in Frankfurt am Main, dann in Berlin, Hamburg, Stuttgart und bald auch in kleineren Städten wie Gießen oder Nürnberg.

Zunächst stehen bei den Eltern ganz praktische Fragen zur Klärung an, zum Beispiel, ob man die Kinder zur Demo mitnehmen solle, aber bald schon drängt auch hier die Sexualerziehung auf die Tagesordnung. Über kein Thema habe man so lange diskutiert wie über Sex im Kinderladen, berichtet Alexander Schuller, einer der Pioniere dieser Bewegung.

Der Soziologe gehörte 1969 zu den Begründern eines Kinderladens in Wilmersdorf. Die anderen Eltern waren wie er Akademiker, viele arbeiteten als Journalisten oder an der Hochschule, ein durch und durch bürgerliches Kollektiv also. Schuller hatte zwei Söhne, damals vier und fünf Jahre alt, die frei aufwachsen sollten, ohne die üblichen Vorschriften und Strafen eines staatlichen Horts.

Doch schon bald bildeten sich unter den Erwachsenen zwei Lager: Die einen waren entschlossen, die Kinder dazu zu animieren, ihre Geschlechtsteile zu zeigen und anzufassen, den anderen war diese Idee unheimlich.

"Es wurde nie so direkt ausgesprochen. Aber es war klar, dass es am Ende auch um Sex mit den beiden Erzieherinnen ging", sagt Schuller. "Mir fiel es wahnsinnig schwer, Position zu beziehen. Ich fand es grundsätzlich richtig, was wir hier vorhatten. Aber an diesem Punkt dachte ich, das ist doch verrückt, das geht doch nicht. Dafür habe ich mich dann wieder geschämt. Ich glaube, so ging es vielen."

Nach einem Jahr zermürbender Diskussion obsiegte in diesem Fall die Fraktion der Prüden: kein Sex im Kinderladen.

Die Stimulation eines kindlichen Geschlechtsorgans durch einen Erwachsenen stellt aus heutiger Sicht eindeutig einen strafbaren sexuellen Übergriff dar. Für die revolutionär gestimmten 68er war es hingegen ein pädagogisches Mittel, das dabei half, "den neuen Menschen zu schaffen", wie es das "Handbuch in positiver Kinderindoktrination" ausführte, das 1971 auf den deutschen Büchertischen landete: "Kinder können Erotik und Beischlaf schätzen lernen, lange bevor sie imstande sind zu begreifen, wie ein Kind entsteht. Für Kinder ist es wertvoll, wenn sie gemeinsam mit Erwachsenen schmusen. Nicht weniger wertvoll ist es, wenn während des Schmusens Geschlechtsverkehr stattfindet."

Der Selbstbetrug der Aufklärer begann da, wo sie ein unverkrampftes Verhältnis zum Sex mit Krampf herstellen wollten. Der Theorie nach ging es darum, die Kinder zum Ausleben ihrer Bedürfnisse zu befähigen. Weil Kinder aber von sich aus wenig Anstalten machen, vor Erwachsenen sexuell aktiv zu werden, mussten sie entsprechend angeregt werden. Auch deshalb wurden laufend Sexwitze erzählt, war ständig von "Pimmel", "Popo" und "Vagina" die Rede. "Eigentlich sind meine Söhne ganz gern in den Kinderladen gegangen", sagt Schuller, "nur das dauernde Gequatsche über Sex fanden sie furchtbar."

Wie qualvoll es für Kinder sein kann, wenn ihre Schamgrenzen missachtet werden, hat Sophie Dannenberg in ihrem Roman "Das bleiche Herz der Revolution" eindrucksvoll beschrieben. Dannenberg, die in den Siebzigern in Gießen von ihren damals noch DKP-bewegten Eltern in einen Kinderladen geschickt wurde, hat die Erzählungen ihrer Mutter und anderer Zeitzeugen zu einer Abrechnung mit der Daueraufklärung verarbeitet.

Zu dem Material, das sie verwendete, gehört der Bericht von einem Elternabend, bei dem eine Mutter erzählte, wie sie sich vor ihrem Sohn nackt auszog, um sich dann von ihm "inspizieren" zu lassen. Dabei spreizte die Frau die Beine und bot ihre Scham zur Erforschung an. Das Spiel endete damit, dass der Sohn einen Bleistift in die Mutter steckte. Lange wurde unter den Eltern auch die Frage behandelt, ob man vor den eigenen Kindern Geschlechtsverkehr haben solle, um ihnen die "Natürlichkeit" des Koitus zu demonstrieren.

Dannenbergs Gesprächspartner erinnern sich an keine körperlichen Annäherungen, aber sehr wohl an "weichere Formen der Übergriffigkeit" wie die penetrante Aufforderung, sich nackt zu zeigen. In dem nach der Recherche entstandenem Roman muss sich die achtjährige Simone vor mehreren Erwachsenen und anderen Kindern entblößen: "Warum willst du dich verstecken", ruft die Mutter, unter dem Gelächter der Umstehenden, als sich das Kind instinktiv ein Kissen vor das Geschlecht hält: "Das ist doch was Schönes, was du da hast! Zeig doch mal!"

Keine Szene des Buchs hat so wütende Reaktionen provoziert wie diese. Sie sei auf Diskussionsveranstaltungen mitunter regelrecht niedergebrüllt worden, wenn die Sprache darauf kam, berichtet Dannenberg. "Lüge, Lüge", riefen Zuschauer, als sie einmal mit Ulrich Enzensberger auf einem Podium saß und ihn an die sexuellen Eskapaden erinnerte.

Es war wohl auch für die Erwachsenen nicht immer ganz einfach, so frei zu sein. Nicht alle wussten damit umzugehen, wenn die Kinder nicht nur sich selbst befummelten, sondern irgendwann auch die Großen.

Bekannt ist die Geschichte von Daniel Cohn-Bendit über seine Zeit als Erzieher in einem Frankfurter Kinderladen. In seinem Erinnerungsbuch "Der große Basar" von 1975 hat der Grünen-Politiker beschrieben, wie die ihm zur Aufsicht Anvertrauten seinen Hosenlatz öffneten und sein Geschlechtsteil zu streicheln begannen. "Meist war ich ziemlich entwaffnet", schreibt er, "ich habe je nach Umständen unterschiedlich reagiert."

Andere hatten erkennbar mehr Mühe, mit der Situation umzugehen. In den Protokollen eines Stuttgarter Kinderladens vom Dezember 1969 findet sich der Bericht einer Mutter, der mehrere Kinder plötzlich unter den Rock fassen. Als einer der Jungen auch noch an den Schamhaaren zieht, weiß die Frau nicht, wie sie reagieren soll: Einerseits will sie nicht als verklemmt erscheinen, andererseits ist ihr die Situation unangenehm. "Das tut mir weh, das finde ich nicht gut", sagt sie schließlich.

Wie schwer es Kinderladen-Eltern irgendwann fällt, zwischen ideologischem Selbstanspruch und Gefühl für das Richtige zu entscheiden, zeigt auch der Erfahrungsbericht der Soziologin Monika Seifert vom "Elternkollektiv der Kinderschule Frankfurt", der erst in der Zeitschrift "Vorgänge" und im Herbst 1970 auszugsweise im SPIEGEL erscheint.

Seifert fragt sich darin selbstkritisch, warum in ihrem Projekt noch "kein Fall von versuchter, direkter, zielgerichteter sexueller Aktivität eines Kindes mit einem Erwachsenen beobachtet wurde". Das gilt wohlgemerkt als Manko, nicht als Erfolg. Die Schlussfolgerung der Mutter: Die "eigenen Hemmungen und Unsicherheiten der Erwachsenen" seien wohl schuld an der Passivität, die Kinder würden "durch das unbewusste Reagieren der Erwachsenen ihre sexuelle Neugierde an diesem Punkt unterdrücken".

Ist es Missbrauch, was in einer Reihe von Kinderläden passierte? Nach den Kriterien, die an katholische Priester angelegt würden, eindeutig ja, meint Alexander Schuller. "Objektiv war es Missbrauch, subjektiv nicht", sagt Sophie Dannenberg. So verquer es im Rückblick wirkt: Die Eltern haben das Wohl des Kindes im Auge, nicht das eigene. Bei den Anhängern der neuen Bewegung dient das Kind nicht als Sexualobjekt, das dem Erwachsenen die Befriedigung seiner Triebe verschafft. Das unterscheidet den politisch motivierten Missbrauch von der Pädophilie.

Aber auch hier verschwimmen die Grenzen. Was soll man davon halten, wenn Cohn-Bendit in seinen Memoiren von "kleinen Mädchen von fünf Jahren" berichtet, die "schon gelernt hatten, mich anzumachen"? Es ist übrigens nicht das einzige Mal, dass der grüne Politiker von seinen Erfahrungen mit Kindern schwärmte. Es gibt einen weitgehend unbeachteten Auftritt im französischen Fernsehen vom 23. April 1982, bei dem sich der heutige Europaabgeordnete wie folgt äußerte:

"Um neun Uhr morgens gehe ich hin zu meinen acht kleinen Knirpsen zwischen 16 Monaten und 2 Jahren. Ich wasche ihnen den Popo ab, ich kitzle sie, sie kitzeln mich, wir schmusen. (...) Wissen Sie, die Sexualität eines Kindes ist etwas Phantastisches. Man muss aufrichtig sein, seriös. Bei den ganz Kleinen ist es etwas anderes, aber bei den Vier- bis Sechsjährigen: Wenn ein kleines fünfjähriges Mädchen beginnt, Sie auszuziehen, es ist großartig, weil es ein Spiel ist. Es ist ein wahnsinnig erotisches Spiel."

Cohn-Bendit hat später angegeben, seine Schilderungen im Buch seien als Provokation gemeint gewesen. Man kann das glauben oder auch nicht, in jedem Fall zeigt der Werdegang der Grünen in den achtziger Jahren, dass das lockere Gerede über den Sex mit Kleinkindern irgendwann auch die echten Pädophilen anzieht.

Im Gefolge der sich formierenden Schwulenbewegung tauchen bald sogenannte Pädo-Gruppen auf, die nach dem Vorbild der Homosexuellen ebenfalls Rechte als Minderheit einklagen. Der bekannteste dieser Zusammenschlüsse ist die "Indianerkommune" aus Nürnberg, ein "alternatives Wohnprojekt" von Erwachsenen und Kindern. Schon auf dem ersten Parteitag der Grünen 1980 in Karlsruhe sind die "Indianer" vertreten, um, buntbemalt und lautstark, für ihr Anliegen, den "freien Sex von Kindern und Erwachsenen", Stimmung zu machen.

Dem Argument, dass die Sexualität von Kindern nicht vom Staat begrenzt werden dürfe, mögen sich die Grünen nicht lange verschließen. Ihr Landesverband in Nordrhein-Westfalen fordert 1985 auf seinem Programmparteitag in Lüdenscheid, "gewaltfreie Sexualität" zwischen Kindern und Erwachsenen generell zu erlauben, ohne jede Altersbeschränkung. "Einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern müssen straffrei sein", steht zeitgleich in einem Entschluss des Arbeitskreises "Kinder und Jugendliche" der Grünen Baden-Württemberg. Der Protest der Öffentlichkeit erzwingt die Rücknahme der Beschlüsse.

Keine Zeitung bietet den Pädophilen in dieser Zeit ein solches Forum wie die linksalternative "Tageszeitung", was zeigt, wie gesellschaftsfähig selbst diese Grenzüberschreitung im linken Milieu nun ist. In Artikelserien ("Ich liebe Jungs") und großen Interviews dürfen Männer schildern, wie schön und befreiend der Sex mit vorpubertären Jungen sei. "Es gab eine große Verunsicherung, wie weit man gehen kann", sagt Gitti Hentschel, Mitbegründerin und von 1979 bis 1985 Redakteurin der "taz". Wer wie Hentschel gegen die Befürwortung der Pädophilie eintrat, galt als "prüde", als jemand, der die Meinungsfreiheit beschränken wolle. "Zensur kommt in der ,taz' nicht vor", hieß es dann.

Einer der wenigen Wortführer der Linken, die sich früh und entschieden gegen die Pädophilen-Bewegung stellten, war der Sozialwissenschaftler Günter Amendt. "Es gibt keine gleichberechtigte Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen", erklärte Amendt zur Empörung der Szene; auch Alice Schwarzer von der "Emma" wandte sich gegen die Verharmlosung von Sex mit Kindern und sagte, was es ist: harter Missbrauch.

Amendt erinnert sich gut, wie er in Flugblättern und Artikeln als reaktionär verunglimpft wurde. "Es gab damals eine regelrechte Kampagne gegen mich und Alice", sagt er. Erst Mitte der Neunziger ist der Spuk vorbei: 1994 haben die Pädos ihren letzten Auftritt in der "taz", dann setzt sich auch hier die Erkenntnis durch, dass der Geschlechtsverkehr mit kleinen Jungs nicht anders zu bewerten ist als der mit kleinen Mädchen, die dank der Frauenbewegung schon länger als schützenswert gelten.

Von einer Aufarbeitung dieses Teils ihrer Geschichte sind die Revolutionäre von einst noch immer weit entfernt. Als im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule Fragen nach der Verantwortung der 68er auftauchten, waren die Apologeten der Bewegung schnell dabei, einen Freibrief auszustellen.

"Hinter solchen Vorwürfen stecken auch Versuche, eine gesellschaftliche Fortschrittsentwicklung zu denunzieren", erklärte der Sexualwissenschaftler und 68er-Veteran Gunter Schmidt in der "Frankfurter Rundschau": "Im Großen und Ganzen haben die sozialen Veränderungen, die man mit der Chiffre 1968 zusammenfasst, eher zu einer Prophylaxe des Missbrauchs geführt."

Das ist ein sehr milder Blick zurück. Er wird mit Sicherheit nicht von allen geteilt, die damals Teilnehmer der linken Erziehungsexperimente waren.

Der Spiegel | Fleischhauer, Jan und Hollersen, Wiebke