Durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte steht die Sicherungsverwahrung in Deutschland auf dem Prüfstand
Ein Interview mit Michael Stiels-Glenn
Herr Stiels-Glenn, im Streit um den Umgang mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung werden nicht nur parteipolitische Grabenkämpfe ausgetragen, sondern auch Ängste geschürt. Es geht um ca. 100 Menschen, die vor 1998 verurteilt wurden, damals eine Perspektive auf ihre Entlassung im Anschluss an die zehnjährige Sicherungsverwahrung hatten und dann nachträglich zum Schutz der Allgemeinheit unbefristet untergebracht wurden. Im Dezember 2009 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese rückwirkende Verlängerung der Maßregeldauer als unrechtmäßig erklärt. Wie groß ist das Risiko und welche Risiken bestehen überhaupt, wenn diese Menschen nun entlassen werden?
Bevor ich auf Ihre Frage eingehe, lassen Sie mich auf einige juristische, kriminologische und psychiatrische Fragen hinweisen, die die Sicherungsverwahrung aufwirft. Juristisch ist die Sicherungsverwahrung keine Strafe, sondern eine Maßregel. Gemeinhin gilt, dass die Schwere der Schuld und das Maß der Strafe im Verhältnis stehen müssen. Wenn jemand seine Strafe verbüßt hat, ist das Unrecht damit gesühnt und der Staat hat keinen weitergehenden Anspruch auf Freiheitsstrafe. Die weitere Sicherungsverwahrung wird jedoch nicht mit der (vergangenen) Schuld begründet, sondern mit einer (vermuteten) Gefährlichkeit in der Zukunft. Das heißt aber auch: Straftäter können nie beweisen, dass Vollzug und Gutachter sich irren, denn dazu müssten sie ja in Freiheit kommen. Dieses ethische Problem gibt es in der öffentlichen Debatte nicht. Nicht nur verängstigte Bürger fordern, frühere Gewalttäter lebenslänglich wegzusperren. Doch Politiker und Fachleute müssen sich dem nicht anschließen, ohne ihr Fachwissen auszublenden!
Wer ohne Schuldfähigkeit eingesperrt ist (im Maßregelvollzug) oder wer seine Strafe verbüßt hat (in der Sicherungsverwahrung), für den gilt ein Übermaßverbot: Die Unterbringung muss im Verhältnis zum individuellen Risiko stehen und die Unterbringungsbedingungen müssen – weil es nicht mehr um Strafe geht – anders und besser sein als in der Haft. Dass manche Medien vom Luxusvollzug sprechen, muss zurückgewiesen werden.
Bevor man die Größe eines Risikos einschätzt, muss man wissen, dass ein Risiko eine kalkulierbare Größe bei der Abwägung zwischen Nutzen und Schaden ist. Risiken sind also Bewertungssache!
Lorenz Böllinger hat darauf hingewiesen, dass die Benutzung von Autos in Deutschland mehrere tausend Menschen im Jahr tötet. Trotzdem werden Autos gesellschaftlich positiv beurteilt, sodass die Opfer hingenommen werden. Man ist damit zufrieden, dass an besseren Sicherheitskonzepten gearbeitet wird, sodass die Zahl der Toten stetig abnimmt. Auch Atomkraftwerke gelten trotz der Großschadensrisiken als hinnehmbares »Betriebsrisiko«. Anders Straftäter, bei denen »null Risiko« gelten soll. Ulrich Beck hat über die Risikogesellschaft gesagt, dass moderne Risiken ohne Fachwissen nicht realistisch eingeschätzt werden; die Bürger sind auf Experten angewiesen. Wenn die sich irren, wird ihre Fachlichkeit angezweifelt. Das erklärt den öffentlichen Unmut auf Psychiater, Gutachter und Juristen nach Rückfällen!
Auto- und Atomunfälle mit Vergewaltigungen zu vergleichen, wird vielen aufstoßen. Muss man nicht die sehr unterschiedlichen Kontrollgefühle berücksichtigen? Beim Autofahren kann man etwas für seine Sicherheit tun, einem Vergewaltiger ist man hilflos ausgeliefert.
Das sehe ich anders: Wenn mein Kind zur Schule geht, hat es oder ich keine Kontrolle, ob ein Autofahrer sein Fahrzeug beherrscht oder nicht! Das mit dem Aufstoßen stimmt – aber gerade darin zeigt sich, dass es gar nicht um die Bedrohung geht, sondern um etwas völlig anderes – nämlich um ein Strafbedürfnis.
Risiken sind Eigen- und Fremdgefährdung und die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Das wichtigste Risiko ist eine Rückfalltat. Hierzu lassen sich keine exakten Zahlen angeben. Michael Alex von der Ruhr-Universität Bochum hat kürzlich eine Studie über Straftäter vorgelegt, die von Gutachtern als gefährlich beurteilt wurden, aber aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden mussten. Von 67 Entlassenen waren nach drei Jahren 23 rückfällig, nur drei mit einem schweren Delikt! Diese Zahlen sprechen eine andere Sprache als Medien und Politiker.
Man wird sicher abwarten müssen, wie sich die Rückfälligkeit dieser Täter in den nächsten Jahren entwickelt. Aber zahlreiche Studien aus dem Maßregelvollzug und der Haft zeigen ähnliche Ergebnisse: Trotz negativer Beurteilung blieben die Täter nach Entlassungen weitgehend straffrei. Besonders eine gute Nachsorge senkt das Rückfallrisiko erheblich, weil Krisen rechtzeitig erkannt werden.
Wer legt die Risikogröße fest bzw. mit welchen Instrumentarien werden Prognosen erstellt?
Gefährlichkeit ist ja keine Persönlichkeitseigenschaft wie die Haarfarbe. Nur ganz selten sind Menschen immer und überall gefährlich. Umgekehrt kann jede und jeder von uns durch bestimmte Situationen bzw. durch Veränderungen zu einer Gefahr – meistens für bestimmte Personen – werden.
Der Gesetzgeber verlangt, dass eine vorzeitige Entlassung verantwortbar sein muss. Dazu werden oft Gutachter (i.d.R. Psychiater, seltener Psychologen und Kriminologen) gefragt. Jede Prognose ist eine Aussage über ein Verhalten in der Zukunft. Fachleute halten wissenschaftliche Prognosen für maximal ein Jahr möglich. Behandelnde und Gutachter schätzen mit Statistiken, mit verschiedenen Checklisten (z. B. PCL-R, SVR-20, HCR-20, STATIC-99, Dittmann-Liste, usw.) und mit klinischer Erfahrung ein, ob das Rückfallrisiko gering, mittel oder hoch ist. Die Checklisten prüfen lebensgeschichtliche und aktuelle Risikofaktoren. Wichtig: Bei Prognosen muss man die Schadensqualität berücksichtigen. Exhibitionisten haben hohe Rückfallquoten, der entstehende Schaden für Dritte gilt aber als vertretbar gering. Sexualmörder haben ein ausgesprochen niedriges Rückfallrisiko, der mögliche Schaden wäre aber hoch. Man kann heute davon ausgehen, dass Gutachter zur eigenen Absicherung die Rückfallrisiken eher zu hoch als zu niedrig einschätzen. Michael Alex schlussfolgert deshalb, dass auf einen zu Recht festgehaltenen Täter 20 zu Unrecht Eingesperrte kommen. Darüber redet niemand!
Was könnten Staat und Fachleute denn tun, um sowohl dem Freiheitsrecht des Einzelnen als auch dem Schutzrecht der Allgemeinheit gerecht zu werden? Das Bundesverfassungsgericht hatte zwar 2004 die nachträgliche Sicherungsverwahrung für rechtens erklärt, aber auch klargestellt, dass »die Sicherungsverwahrung ebenso wie der Strafvollzug darauf ausgerichtet seien, die Voraussetzungen für ein verantwortliches Leben in Freiheit zu schaffen«. Wie würden Sie diese Voraussetzungen beschreiben?
Nach dem gültigen Strafvollzugsgesetz soll die Strafvollstreckung zuerst der Resozialisierung dienen; erst danach geht es um den Schutz der Allgemeinheit. Diesem Auftrag kommt der Strafvollzug, in dem auch die Sicherungsverwahrung vollzogen wird, immer weniger nach.
Unter dem Druck der öffentlichen Debatten scheuen die Verantwortlichen Risiken; sie wollen sich nicht vorwerfen lassen, sie hätten etwas übersehen. Das Streben nach Absicherung hat aber wenig mit der Erhöhung der öffentlichen Sicherheit zu tun.
Neben schulischen und beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen (die im deutschen Strafvollzug gut funktionieren) braucht man bereits während des Vollzugs eine Zusammenarbeit mit dem sozialen Empfangsraum; die Bindungen von Gefangenen und Sicherungsverwahrten zu Verwandten und Freunden sollten unterstützt werden. Das Selbstbewusstsein und die sozialen Kompetenzen der Inhaftierten müssen trainiert werden. Die begangenen Straftaten sollten in Gruppen bearbeitet werden, damit Täter ihre Deliktmuster und ihre persönlichen Risikofaktoren erkennen und Strategien für zukünftige Krisensituationen entwickeln. Oft braucht es zusätzlich Psychotherapie, um Störungen und Traumata zu behandeln. Von all dem geschieht in Haftanstalten meistens zu wenig. Auch die Vorbereitung der Entlassung und die Nachbetreuung lassen zu wünschen übrig. Zu den Voraussetzungen für ein verantwortliches Leben in Freiheit gehört aus heutiger Sicht aber eine gute Nachsorge!
Beides hat bei den jetzt Entlassenen nicht stattgefunden. Was kann man denn jetzt noch tun? Rund-um-die-Uhr-Bewachung durch die Polizei oder alternativ die Überwachung durch elektronische Fußfesseln sind ja keine Resozialisierungsangebote.
Nein! Hier handelt es sich um typische »Fensterreden«; man demonstriert Aktivität. Wenn ich z. B. sexuelle Kontakte zu 12- bis 15-jährigen Jungen suche, dann kann ich die dazu bringen, dass sie mich zu Hause besuchen! Was nutzen, bitte schön, da Fußfesseln? Eine Rund-um-die-Uhr-Bewachung durch die Polizei bindet massiv Personalressourcen, worauf auch die Polizei hinweist. Wie lange will man das denn durchhalten? 20 Jahre lang bei einem Täter? Und was lernt der dadurch? a) Er muss sehr gefährlich sein; b) er braucht nicht an sich zu arbeiten, um Sicherheit herzustellen – dafür ist die Polizei da! Würde man diese unsinnigen Aktivitäten einstellen und das Geld in gute Nachsorgenetze stecken, würde die Sicherheit steigen.
Was sind für Sie Kriterien einer guten präventiven Rückfallarbeit?
Eine gute Prävention beginnt – wie oben beschrieben – bereits während der Freiheitsstrafe, wird aber nach der Entlassung ausreichend lange durch eine Nachsorge fortgesetzt. Wir wissen heute, dass während der ersten 15 Monate die Wahrscheinlichkeit einer Rückfalltat am höchsten ist; in dieser Zeit müssen also genügend personelle Ressourcen vorhanden sein. Führungsaufsicht und Bewährungsaufsicht dauern heute zwischen drei und fünf Jahren; bei problematischen Verläufen kann die Führungsaufsicht im Extremfall unbefristet verlängert werden.
Während der Freiheitsstrafe muss man – am besten in Zusammenarbeit mit Straftätern – herausfinden, was seine individuellen Risikofaktoren sind, wann und unter welchen Umständen er für wen eine Gefahr darstellt. Dazu gehört:
- Mit dem Täter gemeinsam seine individuellen Risikofaktoren herausfinden: Welche äußeren Umstände und welche innere Verfassung würden ihn destabilisieren? Bevorzugt er bestimmte Opfertypen? Wer wäre vor ihm sicher? Welche Orte, welche Zeiten sind hochriskant? Wie wäre der Tatverlauf? Was würde nach einem Delikt wahrscheinlich passieren?
- Zu besprechen, welche inneren und äußeren Ressourcen der Täter hat bzw. noch entwickeln muss, um seinen individuellen Risikofaktoren entgegenzuwirken.
- Krisenpläne zu erarbeiten, die Frühwarnzeichen enthalten und Vereinbarungen, was geschieht, wenn er, sein Umfeld oder seine Betreuer solche Zeichen bemerken.
- Eine längere Begleitung in einem Netzwerk, in dem Profis mit dem Umfeld des entlassenen Straftäters kooperieren.
Zur Prävention gehört, dass ein Täter lernt, mit aggressiven Impulsen und mit Frustration umgehen. Das bedeutet, er muss trainieren, sich angemessen zu streiten. Er muss lernen, anderen mitzuteilen, wenn es ihm schlecht geht. Man muss mit ihm auch die erlittenen Schädigungen bearbeiten.
Müssten sich unter diesen Anforderungen nicht die Einrichtungskonzepte fundamental ändern und wenn ja, in welche Richtung?
Hier kann man vom Maßregelvollzug lernen: Dort werden Straftäter eingewiesen, die von Gutachtern für schuldunfähig beurteilt werden, weil sie zum Zeitpunkt der Tat an einer psychischen Krankheit oder Störung litten. Wer das Unrecht seines Handeln nicht einsehen kann oder dieser Einsicht nicht folgen kann, weil seine Steuerungsfähigkeit eingeschränkt ist, kann nicht bestraft werden. Wenn man vermutet, dass wegen der Störung weitere schwerwiegende Delikte zu erwarten sind, ist er in ein psychiatrisches Krankenhaus einzuweisen, bis ein Gutachter feststellt, dass seine »Gefährlichkeit« gesunken ist. Es gibt also keine zeitliche Begrenzung. Die Kliniken begleiten aber ihre Patienten auch bei einer Beurlaubung und verbessern stetig ihre Nachsorge.
Die letzten spektakulären Fälle machen deutlich: Einrichtungen, die den Mut haben, solche Straftäter nach einer Entlassung aufzunehmen, erleben ein gnadenloses Spießrutenlaufen. Ideen, dass die gesamte Öffentlichkeit in der Umgebung informiert werden muss, wer da Unterkunft nimmt (Debatte um den verschiedentlich geforderten »Internetpranger« nach US-Vorbild, Anmerk. der Red.), sprechen jeder Resozialisierung Hohn! Solche Überlegungen sind nur in den seltenen Fällen sinnvoll, wo sich Täter kaum steuern können. Vollzug und Politik müssen im eigenen Interesse den Einrichtungen den Rücken stärken, um Entlassene überhaupt geeignet unterbringen zu können.
Gute Erfahrungen mit Nachsorgekonzepten aus dem Maßregelvollzug zeigen, dass ein gutes Netzwerk verschiedener Dienste – auch unter Einbeziehung der Polizei – hilft, Krisen und Risikosituationen rechtzeitig zu erkennen und gegenzusteuern. Voraussetzung ist, dass die Beteiligten sich regelmäßig sehen, klare Arbeitsabsprachen treffen und sich offen informieren. In einigen Bundesländern ist es möglich, entlassene Maßregelpatienten zur Krisenintervention in die Klinik einzuweisen, in denen man sie kennt. Diese Unterbringung ist zeitlich überschaubar und wird von den Patienten auch angenommen.
Letztlich gibt es kein Nullrisiko für die Allgemeinheit, auch nicht für die Mitarbeiter. Sie plädieren für einen offensiven Umgang mit Rückfällen, um die Lernchancen zu nutzen. Aber: Rückfall ist nicht gleich Rückfall. Haben Sie selbst schon mal einen massiven Rückfall bei einem von Ihnen betreuten und entlassenen Gefangenen miterlebt und wie gehen Sie persönlich damit um?
Einer meiner Klienten hat während einer Wochenendbeurlaubung aus dem Strafvollzug einer Mitarbeiterin aus der Strafanstalt aufgelauert und sie vergewaltigt. Er hat sich von ihr danach in die JVA zurückbringen lassen. Die Mitarbeiterin hat das angeboten, sie kannte den Täter lange und ist relativ beherrscht geblieben. Dieser Gefangene hat sich einige Monate später in der Haft das Leben genommen. Dieses Delikt hat mich (wie die anderen Beteiligten) sehr getroffen und hat zu zusätzlichen Absprachen und Sicherheitsmaßnahmen bei Lockerungen geführt. So haben wir – ähnlich wie im Maßregelvollzug – immer wieder geprüft, ob jemand vor einer Lockerung stabil ist. Vorher galt: Wer einmal gelockert ist, wird nicht mehr überprüft. Dagegen stehen fast einhundert problemlose Verläufe während und nach der Haft. Es gibt mit Therapieklienten die Verabredung, dass sie sich auch nach Abschluss der Psychotherapie jederzeit bei mir melden können: »Besser fünf vor zwölf als fünf nach zwölf.« Eine Reihe von Klienten hat von dem Angebot Gebrauch gemacht und konnte durch Kriseninterventionen stabilisiert werden.
Psychosoziale Umschau, Heft 4 / 2010