Wenn Sozialarbeiter Eltern ihre Kinder abnehmen, hat das meist einen triftigen Grund. Der Rechtsschutz weist jedoch strukturelle Mängel auf: Ist die Obsorge erst entzogen, bekommt man sie nur schwer zurück. In der Zwischenzeit entfremden die Kinder sich von ihren Eltern, was eine Rückgabe unwahrscheinlicher macht. Manche sprechen daher gar von „Kindesenteignung“.
Zwei Sozialarbeiter holen Max (11) und Philipp (13) mit einem Taxi von einer Wiener Schule ab, um sie in ein Krisenschutzzentrum der Magistratsabteilung 11 zu bringen. Weil sie zu Hause geschlagen werden, heißt es, der Ältere habe sich zuvor Schulkolleginnen und später seiner Klassenvorständin anvertraut. Beide bestreiten diese Behauptung später. „Das war eigentlich eine dumme Lüge, und jetzt wirkt das Ganze lächerlich“, sagt Philipp heute. Das Jugendamt hat ihn mittlerweile wieder zu seinen Eltern gebracht, davor war er wegen „fremd- und selbstgefährdenden Verhaltensweisen“ zweimal in einer psychiatrischen Klinik.
Die Herausnahme hat nicht gutgetan
Max lebt nach wie vor in einer betreuten WG – in Österreich gibt es keine Kinderheime mehr, stattdessen gibt es betreute Wohngemeinschaften mit Gruppen von zehn bis 15 Kindern und Jugendlichen – und schreibt wöchentlich Briefe an seine Eltern, in denen er darum bittet, nach Hause kommen zu können. Anfangs hat er sich aus Angst vor den Älteren auf dem Dach versteckt, oft bleibt er dem Unterricht fern. Seit geraumer Zeit riecht er bei den Besuchskontakten nach Marihuana, mittlerweile ist er einige Male aus der WG ausgerissen. Es wirkt nicht so, als hätte ihm die Herausnahme aus dem Elternhaus gut getan.
Die Jugendamt- und Gerichtsakten zeichnen ein anderes Bild von den Umständen der Familie. Da ist von einem gewalttätigen Vater die Rede, der Besuchs- und Kontaktverbote missachtet, Sozialarbeiter wüst beschimpft und seine Kinder dazu gedrängt hat, ihre Vorwürfe zurückzunehmen. Man ahnt es: Von außen lässt sich die Sache nur schwer beurteilen.
Sündenbock Jugendamt
Solche Kindesabnahmen rangieren weit oben auf der Liste elterlicher Horrorvorstellungen. Es handelt sich um einen der schwerwiegendsten Eingriffe in das Recht auf Familienleben, der nur in Ausnahmesituationen gerechtfertigt erscheint: wenn Eltern nicht ausreichend für ihre Kinder sorgen wollen oder können. Dabei müssen keine bösen Absichten vorliegen, sie können auch schlichtweg überfordert sein – „es genügt, wenn die Eltern durch ihr Gesamtverhalten das Wohl des Kindes gefährden“, um es mit den Worten des Obersten Gerichtshofs auszudrücken. Das ist ein Balanceakt, der nicht immer glückt. Bisweilen sind Sozialarbeiter oder Richter übervorsichtig. Was auch in der Natur der Sache liegt: Niemand will der sein, der zu lange gewartet hat. Better safe than sorry.
Acht Tage im Limbus
Bei „Gefahr im Verzug“ können Sozialarbeiter ein Kind mit sofortiger Wirkung und ohne Gerichtsbeschluss von ihren Eltern trennen. Dabei kann auch die Polizei hinzugezogen werden. Das Jugendamt wird dadurch vorläufig Sachwalter des Kindes, kann also in seinem Namen handeln. Ebenso kann es im späteren Gerichtsverfahren Rechtsmittel einlegen.
Diese Regel ist notwendig, um Kinder in Extremfällen zu schützen. Entscheidend ist dabei die Einschätzung des zuständigen Sozialarbeiters, theoretisch also einer einzigen Person. In der Praxis gilt ein „Vieraugenprinzip“, wobei auch leitende Mitarbeiter hinzugezogen werden, wie die zuständige Magistratsabteilung betont.
Abstrakte Richtlinien
Das Recht kann nicht mehr bieten als abstrakte Richtlinien wie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder die Vorgabe, stets das gelindeste, hinreichend erfolgversprechende Mittel anzuwenden. Reine Präventivmaßnahmen sind jedoch nicht zulässig.
Die unterschiedlichen Kinder- und Jugendhilfeträger haben dann acht Tage Zeit, eine Meldung bei Gericht einzubringen. Innerhalb dieser Zeit ist den Eltern die Obsorge vorläufig entzogen. Das mag auf den ersten Blick nach wenig klingen. Es geht jedoch um den Rechtsschutz in einem äußerst sensiblen Bereich. Insofern sind acht Tage, in denen kein Gericht davon weiß, dass ein Kind von seinen Eltern getrennt wurde, eine lange Zeit. Wenn diese Frist überschritten wird, muss die Maßnahme wieder rückgängig gemacht werden, das Kind ist also zurück in die Obhut der Eltern zu bringen. Im Idealfall sollte der Antrag ohnehin noch am selben Tag gestellt werden.
Kinder im „Schwebezustand“
Das Gericht selbst soll so schnell wie möglich, „tunlichst binnen vier Wochen“ entscheiden. Es handelt sich folglich um keine absolute Frist, sondern um eine eindringliche Empfehlung. Wenn das Gericht länger braucht, hat das keine Auswirkungen – das betroffene Kind bleibt während dieses Zeitraums weiter von seinen Eltern getrennt (sofern das Jugendamt diese Maßnahme nicht selbstständig rückgängig macht).
Im Fall von Maximilian ist mittlerweile mehr als ein Jahr vergangen, und es gibt immer noch keine gerichtliche Entscheidung dazu, ob er in der betreuten WG bleiben oder zu seinen Eltern zurückkommen soll – weil das psychologische Gutachten über die geistige Verfassung seiner Eltern fehlt. Der Anwalt der Eltern wollte die Richterin, die Gutachterin und auch die an sie gestellten Fragen juristisch bekämpfen. Weil er die Richterin aufgrund ihrer suggestiven Fragestellungen und ihres allgemeinen Auftretens für befangen hält. Auch die Gutachterin verdächtigt er, nicht sauber zu arbeiten, vielmehr sieht er sie als verlängerten Arm des Jugendamts.
Sein Antrag auf Ablehnung der Richterin wurde mittlerweile abgelehnt. Der Akt liegt noch bei ihr. Das Verhältnis zu Maximilians und Philipps Eltern sowie deren Anwalt könnte jedenfalls besser sein. Das Gutachten wird frühestens im September vorliegen, zumal die Gutachterin den Akt noch gar nicht erhalten hat – „die Richterin spielt auf Zeit“, so der Anwalt der Familie. Zeit, die aber auch wegen seiner Anträge vergangen ist. Zeit, in der keiner weiß, wo Maximilian letztlich bleiben wird. Er befindet es sich in einem juristischen „Schwebezustand“ – eine bedenkliche Rechtsschutzlücke. Manche fordern daher eine zwingende 14-tägige Entscheidungsfrist. Dagegen spricht, dass dadurch die Qualität der Entscheidung leiden könnte.
Kindeswohl und das Recht auf Familie
Wo soll ein Kind groß werden, wenn erhebliche Zweifel an der Erziehungsfähigkeit beziehungsweise den Erziehungsmethoden der Eltern bestehen? Grundsätzlich ist das Kindeswohl gegen das Recht auf ein Familienleben abzuwägen. Seit den Arbeiten des US-amerikanischen Psychologen John Bowlby besteht breiter Konsens über die Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung für das gesunde mentale Heranwachsen des Kindes. Daraus leitete Bowlby auch eine gesellschaftliche Verpflichtung zur Unterstützung von Familien ab: „Wenn Kinder einer Gemeinschaft etwas bedeuten, muss sie ihre Eltern wertschätzen.“
Die simple Annahme, dass ein Kind anderswo besser aufgehoben wäre, rechtfertigt keine Kindesabnahme. Auch wenn Kinder nicht als „Eigentum“ gelten, gilt eine Vermutung zugunsten ihrer Eltern. Finanzielle oder soziale Probleme reichen für sich genommen nicht aus. Der Staat hat kein Recht, Kinder „besseren“ Pflegeeltern oder sonstigen Betreuungseinrichtungen zu übergeben, die er für überlegen hält. Derart weitgehende Eingriffe in das Familienleben bedürfen einer triftigen Begründung – typische Fälle sind die Überforderung der Eltern aufgrund von Drogenabhängigkeit oder regelmäßige schwerwiegende körperliche Misshandlungen.
„Kindesenteignung“?
Diese Beurteilung ändert sich, sobald die Obsorge entzogen wurde. Dann ist allein das Kindeswohl ausschlaggebend. Wenn Eltern ihr Kind zurückbekommen wollen, müssen sie beweisen, dass es ihm bei ihnen besser gehen würde als bei den Pflegeeltern oder der jeweiligen Betreuungseinrichtung. Die Annahme, dass ein Kind bei den Eltern am besten aufgehoben ist, gilt ab diesem Zeitpunkt nicht mehr. Um ein hypothetisches Beispiel zu bemühen: Wenn einem alkoholkranken und nicht-erziehungsfähigen Paar die Obsorge über ihr Neugeborenes entzogen wurde, reicht ein erfolgreicher Entzug nicht aus. Sollten sich in der Zwischenzeit liebevolle, ausreichend gut situierte und reflektierte Pflegeeltern gefunden haben, zu denen das Kind eventuell bereits eine Bindung aufgebaut hat (dies umso mehr, wenn das Verfahren lange andauert), werden die biologischen Eltern ihr Kind nur schwer zurückbekommen.
Martina Reichl-Roßbacher, Leiterin des Wiener Referats für Adoptiv- und Pflegekinder, verweist auf die „Bindungstheorie“: Für das Kind steht nicht „die Leiblichkeit im Vordergrund, sondern die sozialen Eltern – der, der tagtäglich da ist, der mich versorgt, wenn ich krank bin, mit dem ich lachen kann, der mich tröstet“. Wenn die biologischen Eltern in einer entscheidenden Lebensphase des Kindes nicht da waren, können sie diese auch nicht mehr aufholen.
Das Recht auf Familienleben
Kommt die Bedeutung der Bindung zu den biologischen Eltern in der Bewertung der Kinder- und Jugendhilfeträger und letztlich auch der Gerichte zu kurz? Wie die Wiener Zivilrechtsprofessorin und Expertin für Familienrecht, Constanze Fischer-Czermak, betont, kann das alleinige Abstellen auf das Kindeswohl in ein Spannungsfeld mit dem Recht auf Familienleben gemäß Artikel 8 EMRK geraten. Dazu gehören auch das Recht eines Kindes, bei den eigenen Eltern aufzuwachsen, und das Recht der Eltern auf ihr Kind. Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zufolge handelt es sich bei der Fremdunterbringung daher um eine grundsätzlich temporäre Maßnahme. Ziel ist und bleibt die Wiedervereinigung der Kinder mit ihren Eltern, die auch aktiv und stetig gefördert werden soll – das Kindeswohl ist also ein entscheidender, aber nicht der einzige Faktor.
Daher rührt der Vorwurf der „Kindesenteignung“. Wurde die Obsorge für das Kind aufgrund einer akuten Gefährdung einmal entzogen, bekommt man es – vor allem dann, wenn es sich um Kleinkinder handelt – nur schwer zurück. Daher schlägt Fischer-Czermak bei der Entscheidung über die Rückübertragung der Obsorge denselben Maßstab vor wie bei der Entziehung der Obsorge: Wenn das Kind bei den leiblichen Eltern „gut genug“ aufgehoben ist, soll es bei diesen aufwachsen. Nach Wegfall der Gefährdung sollte es daher zu einer Rückübertragung der Obsorge kommen.
Die faktische Macht liegt bei den Jugendämtern
So viel zur Rechtslage. In der Praxis sind Gerichte bei ihren Abwägungen freilich auf die Kinder- und Jugendhilfeträger angewiesen, die ja mit der Familie schon länger und intensiver zu tun hatten. Sozialarbeiter genießen folglich die alleinige Deutungshoheit über die Geschehnisse und die Familienverhältnisse. Manche sprechen von einer „Monopolstellung“. Das Verhältnis der Sozialarbeiter zur Familie entscheidet über den Ausgang des Verfahrens. Eine genuin-objektive Stellungnahme ist unter diesen Umständen oft nicht möglich – was umso bedenklicher erscheint, als das Gericht im Regelfall dem Kinder- und Jugendhilfeträger folgt.
Der Anwalt Alexander Krasser sieht hier zu viel faktische Macht bei einzelnen Sozialarbeitern. Ihm zufolge fehlt es oft am Verständnis und am Willen, mit den betroffenen Eltern zu kooperieren, vielmehr seien diese letzten Endes bloße „Befehlsempfänger“. Experten fordern daher eine Einbeziehung der Familiengerichtshilfe als unparteiische Instanz.
Zu viele Kindesabnahmen?
So zeigen sich innerhalb Österreichs starke Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Während in Wien und der Steiermark eines von 100 Kindern ihren Eltern entzogen wurde, sind es in Tirol lediglich 0,65 Prozent. Während diese Zahl in Wien mit der Bevölkerungsstruktur und den allgemeinen Lebensbedingungen in einer Großstadt erklärt werden kann, geben die übrigen Unterschiede Rätsel auf.
https://www.inhr.net/content/prof-uwe-joptim-jugendamt-arbeiten-wohlmeinende-laien
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