Zicken, Zorn und Zoff – Kinder werden erwachsen

Mädchen PubertätMit Beginn der Pubertät beginnt das Chaos. Im Körper der Jugendlichen tobt nicht nur ein Sturm der Hormone. Auch das Gehirn wird umgebaut. Die Jugend rebelliert. Sie bricht mit elterlichen Konventionen – und grenzt sich damit von den Erwachsenen ab. Konflikte sind programmiert.

Keine Lebensphase ist so aufregend wie die Pubertät: Erster Kuss und erster Liebeskummer. Nicht selten fährt die Seele Achterbahn. Für die Eltern sind die Jugendlichen indes oft auch Stein des Anstoßes: Streit über Ausgehen, Alkohol und Outfit. Bei der Gratwanderung zwischen Loslassen und Festhalten stoßen die Erwachsenen oft an ihre Grenzen.

Die Antwort der Forscher auf die Frage, warum die Pubertät derart vertrackt ist, fällt beruhigend und beunruhigend zugleich aus, wie in dieser Woche die 13. Europäische Konferenz zur Entwicklungspsychologie in Jena zeigte. Zum einen: Grenzgänge in der Jugend sind vollkommen normal. Die Suche nach ständigem Nervenkitzel rührt vor allem von massiven Veränderungen im Gehirn.

Dennoch ist auch die Pubertät dem Wandel der Zeit unterworfen. Für die heutige Jugend ist es schwerer denn je, sich von den Erwachsenen abzugrenzen. Auch aus diesem Grund greifen die Heranwachsenden zu immer extremeren Mitteln. Noch dazu gelangen Kinder früher in die Pubertät als noch vor hundert Jahren. Insbesondere für Mädchen ist die frühe Fruchtbarkeit in vielen Fällen eine Bürde für das Leben.

Meist zeigt sich die Pubertät bei völlig nebensächlichen Ereignissen: Die elfjährige Amelie etwa trägt seit Neuestem die künstlichen Nägel ihrer Freundin. Ihre Tante ist skeptisch: „Da kann ich gar nicht hinsehen, so furchtbar sieht das aus.“

Amelie steht am Beginn der Pubertät, ihr Aussehen ist ihr wichtiger denn je. Ihr Körper verändert sich rasch. Unter den Achseln, im Schambereich und an den Beinen wachsen feine Härchen. Die Brüste beginnen sich zu wölben. Hüfte, Oberschenkel und Po legen mit jedem Monat an Umfang zu. Bald wird die erste Monatsblutung einsetzen. Jungen und Mädchen wachsen während der Pubertät einen halben Kopf im Jahr. Ihm sprießt ein Flaum, die Muskeln nehmen zu und ebenso die Körperbehaarung. Schließlich tauscht er die Knabenstimme gegen einen Männertenor ein. Mit 16 bis 17 Jahren ist der Wandel vom Bub zum Mann meist vollzogen.

Kinder werden früher erwachsen

Das war nicht immer so. 1840 begann die Pubertät in diesem Alter gerade erst. „Die körperliche Reifung hat sich massiv nach vorne verlagert. Erst in den letzten 20 Jahren ist dieser Trend in den USA und in Europa zum Stillstand gekommen“, sagt Karina Weichold, Entwicklungspsychologin der Universität Jena.

Dass Jungen und Mädchen in den Industrienationen heute wesentlich früher aus ihrem Kinderkörper herauswachsen, liegt vor allem an der üppigen Ernährung. Daneben auch an der besseren Hygiene und der modernen Medizin.

Der Eiweißstoff Leptin aus den Fettzellen leitet maßgeblich den Beginn der Pubertät ein. Über das Blut wird der Botenstoff ins Gehirn gespült und regt dort die Bildung der Hormone im Hypothalamus an. Je mehr Fettdepots im Körper sitzen, desto höher klettert der Leptinspiegel im Blut. Daher ist es nicht verwunderlich, dass dicke Mädchen im Schnitt früher als andere ihre Menstruation bekommen.

Umgekehrt verharren sehr magere Jugendliche länger in der Gestalt eines Kindes. Rutscht der Anteil der Energiereserven am Gewicht unter 17 Prozent, so blockiert das Gehirn das Erwachsenwerden aus purem Eigennutz: Ein derart ausgezehrter Mensch hat zu wenig Kraft für Nachwuchs. „Das Gehirn ist die oberste Instanz, die über die körperliche Reife wacht, sie beschleunigt oder verzögert“, sagt Weichold.

Während sich das Erscheinungsbild der Jugendlichen wandelt, finden allerdings auch im Gehirn gewaltige Umstrukturierungen statt. Viele Verbindungen zwischen den Nervenzellen, den Synapsen, werden gekappt. Jede Sekunde verschwinden 30.000 dieser Verknüpfungen. „Das klingt dramatisch, ist aber ein ganz normaler Vorgang“, so die Entwicklungspsychologin.

Die Tabula rasa im Kopf ermöglicht es sogar erst, dass die Jugendlichen zunehmend komplexe Entscheidungen treffen und Meinungen analysieren können. Erwachsene bemerken diesen Wandel im Denken zunächst im Alltag: Wenn Amalie etwa ihrer Tante trotzig entgegnet: „Ist mir egal, wenn dir meine Nägel nicht gefallen. Meine Freundinnen haben alle welche.“Dann stellt sie deren Position infrage. Indem sie mehr und mehr geistige Eigenständigkeit erlangt, schwindet automatisch der Einfluss der Erwachsenen.

„Mit ihrem Aufstand fordern die Jugendlichen die Akzeptanz ihrer Autonomie, nicht die Aufkündigung der emotionalen Beziehung. Sie brauchen ihre Eltern genauso wie in ihrer Kindheit“, warnt der Entwicklungspsychologe Rainer Silbereisen aus Jena.

Die Abgrenzung von der Welt der Erwachsenen ist ein normaler Weg. Allerdings ist es heute für die Jugendlichen steiniger denn je, ist Françoise Alsaker von Universität Bern überzeugt: „Die Erwachsenen stehlen den Jugendlichen vieles, was ursprünglich alleine den Teenies vorbehalten war.“

Piercings, Tattoos, zerschlissene Jeans, Punk-Frisuren und Rastazöpfe waren einst die Insignien der Heranwachsenden. Heute versteckt sich unter dem Blazer manches Mittfünfzigers ein Nabel-Piercing, und der Supermarktverkäufer sieht aus wie Tokio-Hotel-Sänger Bill, nur könnte er sein Opa sein.

Ähnliche eindrucksvolle Beweisfotos für den Jugendkult der Erwachsenen haben die Pubertätsforscher um Rainer Silbereisen in einer Ausstellung im Stadtmuseum Jena zusammengetragen. „Es gibt eigentlich nur ein Symbol, das man der Jugend gelassen hat – das sind diese tief hängenden, übergroßen Hosen“, sagt Françoise Alsaker.

„Jugendliche brauchten aber eine eigene Kultur. Jugendliche brauchen Dinge, die ihnen niemand wegschnappt, um eine eigene, starke Persönlichkeit zu entwickeln“, glaubt die Entwicklungspsychologin. Sie betrachtet es als Folge der geklauten Jungendbilder und -idole, dass Heranwachsende gegenwärtig immer extremere Erfahrungen suchen.

Das Hirn stumpft ab

Sind also Teenies im Vollrausch ein Opfer der nie erwachsen werdenden Erwachsenen? Jein, sagt Françoise Alsakers. In der Tat betrinken sich immer mehr Jugendliche bis zur Besinnungslosigkeit. Das mag allerdings zu einem Teil durchaus am Erlebnishunger nach extremen Erfahrungen liegen, sagt die Schweizer Forscherin.

Andererseits sieht sie die Verantwortung wiederum bei den Erwachsenen, etwa jenen, die Flatrate-Partys anbieten und schamlos Profit auf Kosten der Gesundheit junger Menschen machen. Das Angebot der Erwachsenen und die Nachfrage der Jugendlichen – beide, da ist sich die Forscherin sicher, tragen einen Teil der Schuld an den jungen Alkoholleichen in den Ausnüchterungszellen.

Ein anderer Grund für den Hunger der Jugend auf Nervenkitzel sitzt wiederum im Kopf der Teenies. Während der Pubertät sinkt die Erregbarkeit des Gefühlszentrum, des Limbischen Systems. Das Glückshormon Serotonin wird nur noch sparsam freigesetzt. Ein Teil des Hirns stumpft ab. Zugleich wird das Belohnungssystem im präfrontalen Cortex gedrosselt. In dieser Hirnregion werden alle äußeren Eindrücke gesammelt und bewertet.

Eine Folge dieser neuen Coolness im Kopf ist die Lust am Nervenkitzel und an neuen Erfahrungen. Jugendliche lechzen nach Risiko: Sie rasen schon mal mit dem Mofa ohne Helm über die Straßen, schlagen sich die Nächte am Computer um die Ohren oder trinken, bis der Arzt kommt.

Die amerikanische Pubertätsforscherin Linda Patia Spear von der State University of New York vermutet sogar, dass Jugendliche höhere Dosen Alkohol benötigen, damit ihr Belohnungssystem im Gehirn anspricht. Das abgestumpfte Gehirn erklärt auch, weshalb es manchen Teenies schwerfällt, sich für die Schule zu motivieren. Der Mangel an Lob aus dem eigenen Hirn verdirbt die Laune.

Zu Tode betrübt, dann wieder himmelhoch jauchzend schwankt die Stimmung der Heranwachsenden mit ihren Erlebnissen. Während Amalie sich noch als Achtjährige über einen Eisbecher ihrer Tante freute, ärgert sie sich heute über das Angebot, weil sie sich von ihr bevormundet fühlt: „Ich sag schon selbst, wenn ich ein Eis will. Das nervt!“ Nicht weiter schlimm, beruhigt Lorah Dorn von der Penn State University und Cincinnati Children’s Hospital: „Mit 18 ist das abgeschlossen, und alles ist wieder gut.“

Trotz der Berg-und-Tal-Fahrt in jungen Jahren steht für die Forscher unisono fest: Das Bild vom pöbelnden, unerträglichen Jugendlichen verfehlt die Wirklichkeit. „Nur ein kleiner Teil von fünf bis zehn Prozent überschreitet die Grenzen und wird straffällig“, erklärt Alsaker das Ergebnis einer Studie an 7500 Jugendlichen. Zur Überraschung der Forscher verstanden sich 85 Prozent der Befragten sehr gut mit den Eltern.

Natürlich gibt es mehr Konflikte etwa über die Ausgehzeiten, aber nur selten bestehen grundlegende Auseinandersetzungen, die die Beziehung dauerhaft beschädigen“, so Alsaker. Das Bild der Jugendlichen in der Gesellschaft ist zu negativ, findet sie. Wenngleich sie die auffälligen Jugendlichen nicht wegreden will.

Vor allem Jungen schlagen als Teenies über die Stränge. Gefährdet sind jene Knaben, die früh in die Pubertät kommen und viel Testosteron im Blut haben. Das Hormon erhöht die Aggressivität. Die Familie und das soziale Umfeld können allerdings Entgleisungen durchaus verhindern. In Kontakt bleiben, Freiräume zugestehen und Grenzen setzen, lautet das abstrakte Patentrezept der Psychologen.

Mädchen haben es schwerer

Sie vertreten jedoch die Einschätzung, dass es Mädchen in der Pubertät schwerer haben, da sie sensibler auf Umwelteinflüsse reagieren. Streiten die Eltern häufig oder verlässt der Vater die Familie, so reifen die Töchter besonders rasch. Die zerrütteten Verhältnisse begünstigen eine frühe Mutterschaft. Die Wissenschaftler sind sich noch nicht im Klaren, worauf dieser Effekt beruht. Stresshormone könnten möglicherweise die Pubertät beschleunigen, so eine Vermutung.

Mädchen, die ihre Kindheit besonders schnell hinter sich lassen, haben es im Leben nicht besonders leicht: Meist fühlen sie sich zu älteren Jungen hingezogen und übernehmen dann deren Verhaltensweisen. Sie trinken Alkohol und rauchen.

„Frühreife Mädchen zeigten mit 24 Jahren viel häufiger Verhaltensstörungen und neigten zum Drogenmissbrauch“, sagt die Psychologin Julia Graber von der University of Florida in Gainesville. Probleme aus der Jugend würden oft bis ins Erwachsenenalter mitgeschleppt.

Weichold ergänzt diesen Befund um eigene Ergebnisse einer Langzeitstudie: „Frühreife Mädchen ticken auch mit Anfang 20 noch anders als ihre Altersgenossinnen. Im Streit mit der Mutter lehnen sie sich häufiger auf und sind seltener kompromissbereit.“

Dennoch hat sie auch eine gute Nachricht: Die Damen können sich trotz harter Zeiten bis zum 40. Lebensjahr zu starken Persönlichkeiten entwickeln, wie eine andere Studie belegt. „Es besteht immer die Chance, dass sich Negatives aus der Jugendzeit später zum Positiven entwickelt.“

welt.de | Susanne Donner